Ich habe das Rote Meer unzählige Male durchschwommen und dabei stets denselben Gedanken gehabt: Warum „rot“? Das Wasser schimmert doch türkisblau, die Fische leuchten in allen Farben, und die Sonne brennt erbarmungslos – aber in einen roten Farbton taucht sie das Meer bestenfalls bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Das kann es also auch nicht sein, denn Sonnenauf- und Untergänge sieht man ja überall auf dem Planeten, oder? Nirgendwo die Spur einer Antwort Eigentlich Grund genug, sich mal auf die Recherche zu begeben und der Sache auf die Spur zu gehen.
Gesagt getan: Die Antwort auf die Frage hat mich auf eine Reise durch Mythen, wissenschaftliche Theorien und kulturelle Deutungen geführt, die – ich muss es zugeben – weitaus faszinierender sind als ein schnödes Farbspiel auf der Wasseroberfläche.
Der Süden in Rot: Himmelsrichtungen mit Farben
Eine der ältesten und populärsten Theorien geht auf die alten Perser zurück, genauer auf die Achämeniden, ein altiranisches Volk. Sie hatten die Angewohnheit, Himmelsrichtungen mit Farben zu kennzeichnen: Norden wurde mit Schwarz, Osten mit Weiß, Westen mit Blau und der Süden mit Rot assoziiert. Aus ihrer Perspektive lag das heutige Rote Meer im Süden, und so nannten sie es „das Rote Meer“ – in Anlehnung an die südliche Himmelsrichtung.
Ein wissenschaftlicher Verdacht: Rote Algen als Übeltäter
Die Natur, das weiß jeder Naturwissenschaftler, lässt sich selten in einer Farbschublade unterbringen. Dennoch gibt es hier eine tatsächlich rote Erklärung, und zwar die Alge Trichodesmium erythraeum (ja, ihr Name enthält bereits das griechische Wort für „rot“). Diese Cyanobakterien können unter bestimmten Bedingungen dichte Blütenteppiche an der Meeresoberfläche bilden, die in der Sonne rötlich schimmern. Es ist eine subtile Erscheinung, die man nur unter idealen Bedingungen sieht – also eher ein geologisch-kosmisches Event als der tägliche Badeurlaub in Hurghada.
Geologie im Farbrausch: Eisenoxide an der Küste
Was jedoch immer zuverlässig rötlich ist, sind die Küstenabschnitte des Roten Meeres, besonders auf der Sinai-Halbinsel. Dort färben eisenhaltige Gesteinsformationen die Landschaft und werfen in der untergehenden Sonne einen leichten rötlichen Schein auf das Wasser
Himjariten und die „Roten“
Aber auch die menschliche Geschichte hinterlässt ihre Spuren, manchmal wortwörtlich. Im alten Jemen lebte vor etwa 2.000 Jahren das Volk der Himjariten. Ihr Name, „Himjar“, leitet sich vom arabischen Wort „chumr“ ab, was so viel wie „die Roten“ bedeutet
Mythen und Legenden: Blutrote Geschichten
Nun gibt es, wie bei fast jedem gut gehüteten Geheimnis, auch hier die dramatische Version der Geschichte. Einige Überlieferungen erzählen von blutigen Schlachten, die in der Antike am und auf dem Roten Meer stattgefunden haben sollen. Das Blut der gefallenen Krieger färbte das Meer rot – oder so behaupten es zumindest die Legenden
Die Griechen und ihr „Erythräisches Meer“
Auch die alten Griechen hatten ihre eigene Interpretation des Roten Meeres, das sie „Erythräisches Meer“ nannten – ebenfalls abgeleitet vom griechischen Wort für Rot: erythros. Allerdings bezog sich dieser Begriff nicht ausschließlich auf das heutige Rote Meer, sondern auch auf angrenzende Gewässer des Indischen Ozeans. Es zeigt, wie flexibel geografische Begriffe damals verwendet wurden, und gibt einen Einblick in die antike Seefahrt, bei der ein und derselbe Name gerne mal mehrere Meeresarme abdeckte.
Fazit: Ein Meer, viele Farben – und noch mehr Geschichten
Das Rote Meer ist, trotz seines Namens, ein Meer von Geschichten. Ob es nun die geologischen Prozesse, die farbenfrohen Algen oder die historischen und mythologischen Überlieferungen sind, die zur Namensgebung beigetragen haben – jede Theorie hat ihren eigenen Reiz. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen, ein Mosaik aus Algenblüten, rötlichen Felsen und poetischen Namen, das uns daran erinnert, dass der Mensch seit jeher versucht, die Natur durch Sprache zu fassen.
Und wenn du das nächste Mal an der Küste des Roten Meeres stehst und über die Wellen in die Ferne blickst, denke daran: Manchmal ist es das Unbekannte, das die besten Geschichten erzählt.